Aktuelle Balance

Balance2-2020-Dis-Tanz
Editorial:

Liebe Leserin, liebe Leser,

„Ich setzte meinen Fuß in die Luft und sie trug“,

dieser Satz von Hilde Domin hat etwas in mir sehr angesprochen, den Wunsch oder die Sehnsucht, etwas ganz Neues zu wagen, etwas Unerwartetes, vielleicht Verrücktes zu tun, ohne genau zu wissen, wohin es führen wird. Etwas Schwereloses wieder zu entdecken, das beflügelt, eingetretene Pfade zu verlassen, sich lebendig zu fühlen. Sie selbst hat diese Worte in einer für sie traurigen Lebensphase gefunden, in der sie sich einsam fühlte; ihre Gedichte wurden ihr Heimat.

Im Tanz setzen wir immer wieder den Fuß in die Luft, bevor er einen neuen Halt findet. Die Luft trägt ihn nur für einen kurzen Moment. Was ist gemeint mit dieser Metapher? Die Luft kann doch nicht tragen – oder doch? Gerade auf einer Reise habe ich erlebt, wie sie das schwere Flugzeug mit den vielen Menschen stundenlang in großer Höhe gehalten hat. Mit unseren Erfindungen können wir fliegen, gleiten, segeln. Und doch ist nichts Physikalisches mit diesem Satz gemeint, er klingt provokativ, absurd. Mir fällt dazu ein „wie das Leben“. Wir wollen und sollen leidenschaftlich leben, lieben, lachen, lernen, einen Beruf ergreifen, eine Familie gründen – obwohl wir wissen, dass wir nur eine kurze Zeitspanne auf dieser Erde verbringen dürfen. Warum stürzen wir uns trotz dieses Bewusstseins und angesichts von Krieg und Ungerechtigkeit in der Welt ins Leben, gestalten eine Zeitschrift, tanzen? Es erscheint paradox und ist doch die einzigartige Chance, unseren Fußabdruck zu hinterlassen, Sinn zu erschaffen, der uns letztendlich trägt. Ein Satz der Tänzerin Pina Bausch war lange am Wuppertaler Schauspielhaus zu lesen: „Wenn ich will, dass die Sonne scheint, lasse ich sie einfach aufgehen.“ Thomas Mann sagt in seinem Zauberberg: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ Setzen wir also täglich weiterhin mit Mut und Zuversicht neugierig unseren Fuß in die Luft und bleiben offen für das was kommt.

Der kurze ungewöhnliche Text hat all unsere Autor*innen inspiriert: So beschäftigt sich Marion Küstenmacher mit Paradoxien und dem „Fisch an der Zimmerdecke“, Regina Kessler mit Hilde Domin und der Bedeutung von Tanz und Poesie. Fernand Braun schreibt zum Thema: „Kein fester Boden und doch fester Stand.“ Als Bindeglied zwischen Mensch und Erde sieht Sabine Grumann den Fuß; ihn in die Luft zu setzen als echtes Abenteuer, als Chance mit offenem Ausgang. Mir kam bei den Worten von Hilde Domin die Tarot-Karte „Der Narr“ in den Sinn und Beatrice Cron, die Künstlerin, deren Bilder diese Ausgabe bereichern, erzählt von den Erfahrungen ihres Sabbatjahres.

Als Tanzbeschreibung wählten wir Saskia Klokes Tanz: „Himmelweite“. Wie immer gibt es Neues vom Ausbildungsinstitut und Fachverband, der einen neuen Vorstand bekommen hat. Viel Freude bei der Lektüre wünscht Ihnen das Redaktionsteam.

Carin Schreiber-Muller

Vorherige Veröffentlichungen

Fuss in die Luft
1-2024

Übergänge
2-2023

Tanz meine  Sprache
1-2023

Aufbruch ins Ungewisse
2-2022

Licht der Zuversicht
1-2022

Pfad des Herzens
2-2021

Das Leben feiern
1-2021

Balance2-2020-Dis-Tanz

Dis-Tanz
2-2020

Balance2-2020-Dis-Tanz

Wo ich ende und du beginnst
 1-2020

Balance2-2020-Dis-Tanz

Tanz…Tanz…Tanz…
2-2019

Balance2-2020-Dis-Tanz

Gedanken zur Einstimmung
1-2019

Balance2-2020-Dis-Tanz

Leb die Leben, leb sie alle…
1-2018

Balance2-2020-Dis-Tanz

Resonanz
2-2018

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