Balance Nr. 2 – Dezember 2020

Balance Nr. 2 – Dezember 2020

Editorial von Carin Schreiber-Müller

Liebe Leserin, lieber Leser,

glücklicherweise durften wir eine Weile wieder tanzen – mit Distanz und ohne uns anzufassen. Noch bevor dies möglich wurde, dachten wir, das Thema dieser Ausgabe müsse etwas mit Distanz zu tun haben und stellten überrascht fest, dass in diesem Wort der „Tanz“ enthalten ist und ein „Dis“, also etwas, das eine Trennung oder das Gegenteil ausdrückt, eigentlich nicht dazu passt. Oder eben doch? Wenn wir Distanz und Nähe als entgegengesetzte Pole betrachten, gehören sie zusammen, ist das Eine ohne das Andere nicht denkbar. Im Tanz, vor allem im freien Tanz, können wir damit spielen, uns annähern und entfernen. Abstand kann Ablehnung, Unsicherheit, Angst, aber auch Respekt, Schutz, Bedenkzeit (eine Nacht darüber schlafen) bedeuten. Der Tanz Kalamatianos mit seinen Bedeutungen Rücksicht, Vorsicht, Einsicht und Übersicht fällt mir dazu ein. Beide Pole halten Geschenke für uns bereit. Leonardo da Vinci sagt: „Die kleinen Zimmer oder Behausungen lenken den Geist zum Ziel, die großen lenken ihn ab.“ Für den Gegenpol fand ich diesen Text (Autor unbekannt): „Only at a great height is enough room for wide wings.“

In der Enge, der Nähe erkenne ich Details, in der Entfernung die ganze Gestalt. Als die ersten Astronauten unseren Planeten im Ganzen sahen, waren sie überwältigt von dessen Schönheit. Ein bekanntes Beispiel ist die Geschichte der blinden Menschen, die einen Elefanten beschreiben sollen. Je nachdem, an welcher Stelle sie das Tier befühlen, nehmen sie die jeweiligen Einzelheiten wahr, die ein höchst widersprüchliches mehrschichtiges Bild ergeben. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch, sondern dass zum Beispiel aus dem Befühlen der Stoßzähne nicht auf das Gesamtbild geschlossen werden kann. Im übertragenen Sinne reduzieren wir sicherlich manchmal unsere nahen Menschen auf die von uns wahrgenommenen Eigenschaften und vergessen, dass im Kontakt zu anderen oder aus einer distanzierteren Sicht weitere Qualitäten erkennbar sind, vielleicht sogar solche, die unserem Eindruck komplett widersprechen.

Wir haben verschiedene AutorInnen um ihre Gedanken zu diesem Thema gebeten und möchten auch Sie dazu anregen. Wie geht es Dir/Ihnen in dieser außergewöhnlichen Zeit, in der uns soviel Abstand abverlangt wird? Was hat Ihnen am meisten gefehlt? Haben Sie eventuell etwas gewonnen? Im Interview mit Alfred Bast geht es um Distanz und den schöpferischen Zwischenraum. Ihre ganz persönliche Erfahrung dieses Zwischenraums schildert Dorothea Schnitzler. Ist Ihnen vielleicht auch aufgefallen, dass – während wir mit Umarmungen sparsamer umgehen müssen – es manchmal überraschenderweise wohltuenden freundlichen Blickkontakt von ganz Fremden gibt? Über die Intensität von Blicken, den „Sekundenflirt“, lesen Sie im Beitrag von Gerhard Krautloher am Beispiel des Tango Argentino. Berührung und Berührtwerden sieht Sabine Grumann als eine im Menschen angelegte Möglichkeit, als Lebenskunst, für die auch Corona trotz Abstand und Einschränkungen eine Chance birgt, vielleicht auf ganz andere als bisher gewohnte Weise. Lorraine Pratt schließlich nimmt die Méditation en Croix zum Ausgangspunkt ihrer Gedanken und empfindet die letzten Monate als ihren lebendigen Ausdruck.

Wir von der Redaktion freuen uns über Deine/Ihre Rückmeldungen, Anregungen und Kritik. Wir wünschen Ihnen trotz Corona beglückende und bereichernde Begegnungen und vor allem Gesundheit.

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